Seit Anfang 2020 unterstützt der Lemonaid & ChariTea e.V. die mexikanische Organisation „Interculturalidad, Salud y Derechos A.C.“ (INSADE), übersetzt Verein für Interkulturalität, Gesundheit und Rechte. INSADE führt Projekte zur sozialen Wiedereingliederung und unternehmerischen Selbstständigkeit von Frauen auf Bewährung durch. Der Lemonaid & ChariTea e.V. fördert das innovative „Hecho en Libertad“ (In Freiheit gemacht) Projekt, durch das Teilnehmer*innen handwerkliche und unternehmerische Fähigkeiten erlangen. Damit können sie nach ihrem Gefängnisaufenthalt selbstständig Einkommen erwirtschaften. Denn die größte Herausforderung für diese Frauen besteht darin, nach ihrer Entlassung wieder einen Fuß in die Arbeitswelt setzen zu können.


Die Situation in mexikanischen Gefängnissen ist noch immer prekär. Neben den schlechten Unterbringungsbedingungen und regelmäßiger physischer Misshandlung durch Aufsichtspersonen stellt vor allem die hohe Zahl der Wiederholungstaten ein Problem dar. Landesweit wurden rund 25,9 Prozent der Bevölkerung, die sich 2016 im Freiheitsentzug befanden, bereits zuvor wegen eines Verbrechens angeklagt. 24,7 Prozent waren in der Vergangenheit schon einmal inhaftiert. Viele Ersttäter*innen werden durch die Perspektivlosigkeit auf dem mexikanischen Arbeitsmarkt und die Stigmatisierung nach einem Gefängnisaufenthalt wieder in die Kriminalität getrieben, weil sich ihnen keine legalen Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Die Qualität der wenigen Maßnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung von Personen im Freiheitsentzug wird Umfragen zufolge als „sehr niedrig“ bewertet.

Selbstständige Einkommensgenerierung gegen Wiederholungstaten

Vor allem Frauen, die nur 5,2 Prozent der insgesamt 178.400 Mexikaner*innen in Freiheitsentzug ausmachen, leiden unter mangelnden Wiedereingliederungsmaßnahmen. Diese orientieren sich vor allem an den Bedürfnissen der inhaftierten Männer. Viele Familien unterstützen zwar ihre inhaftierten Männer, jedoch wenden sich viele Partner von ihren Frauen ab, sobald diese inhaftiert sind. Zusammen mit der systematischen Diskriminierung in Bezug auf ihre soziale und wirtschaftliche Reintegration erhöht dies die Chance auf das erneute Begehen einer Straftat.

INSADE reagierte 2011 auf das von Jugendlichen geäußerte Bedürfnis nach einer beruflichen Ausbildung und der Möglichkeit, ihre Familien aus der Haftanstalt heraus finanziell zu unterstützen. Daraufhin entwickelte INSADE ein an den Wünschen der straffällig gewordenen Jugendlichen ausgerichtetes Interventionsmodell. Hecho en Libertad bietet ihnen die Möglichkeit, sich in vier Phasen auf die wirtschaftliche und soziale Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorzubereiten.

Die erste Phase konzentriert sich auf Kompetenzen für den Lebensalltag. Hier werden Sportkurse durchgeführt und Kurse zum Thema sexuelle und reproduktive Rechte und Nichtdiskriminierung angeboten. In der zweiten Phase lernen die Teilnehmenden in Workshops, wie sie verschiedene Produkte herstellen können, um diese anschließend zu verkaufen. Damit können sie ihre Familien während der Haftstrafe finanziell unterstützen. Im dritten Schritt vermittelt INSADE den Jugendlichen unternehmerische Fähigkeiten und Wissen über das mexikanische Wirtschaftssystem. Mit diesem Wissen können sie sie selbstständig ein Geschäftsmodell für ihre Produkte entwickeln. Dabei erhalten sie Unterstützung bei Projektanträgen und Kreditanfragen. Nach ihrer Freilassung beobachtet und hilft INSADE in der vierten Phase den Jugendlichen bei der Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben.

Die durchgeführten Projekte mit den Jugendlichen waren ausnahmslos erfolgreich. Dank der erworbenen Fähigkeiten und Handwerkzeuge ist in den vier Jahren der Projektimplementierung keiner der insgesamt 1300 in Freiheitsentzug befindlichen Jugendlichen wieder straffällig geworden.

Eine zweite Chance für Frauen auf Bewährung

Das neuste Projekt der NGO widmet sich gezielt der Problematik der Diskriminierung von Frauen in Bezug auf ihre Chancen zur beruflichen Wiedereingliederung nach einem Gefängnisaufenthalt. INSADE ist der Überzeugung, dass Reintegrationsprogramme einen geschlechtsspezifischen Schwerpunkt setzen sollten, um sich damit an den Bedürfnissen der Frauen zu orientieren. Der Grund, warum Frauen überhaupt inhaftiert werden, ist strukturell oft ein anderer als bei Männern, manchmal bürgen die Frauen auch für die Straftaten ihrer Männer. Darüber hinaus sind ihre Familien und Kinder anders von der Inhaftierung betroffen. Bisher fehlt es jedoch an Programmen und Synergien, um langfristig positive Veränderungen zu bewirken.

Teilnehmer*innen des Programmes lernen sowohl handwerkliche Fähigkeiten, als auch den Aufbau eines eigenen Unternehmens
Im Hecho en Libertad Projekt lernen die Teilnehmer*innen nicht nur handwerkliche Fähigkeiten, sondern auch, wie sie ihr eigenes Unternehmen aufbauen können.
© INSADE

Deswegen entwickelte das Team ein neues Projekt im Hecho en Libertad Modell, das sich auf Möglichkeiten zur unternehmerischen Selbstständigkeit von Frauen auf Bewährung im Bundesstaat Mexiko und Mexiko- Stadt spezialisiert. Pro Jahr können 100 straffällig gewordene Frauen an dem Hecho en Libertad Programm teilnehmen. In verschiedenen Workshops lernen Frauen die Herstellung von Produkten, die sie später verkaufen können. Unter anderem gibt es Kurse zur Herstellung von handgemachten Kosmetika wie Cremes und Seifen, sowie zur Herstellung von Schmuck aus Recyclingglas (Ohrringe, Halsketten, Schlüsselringe, Armbänder). Durch einen Workshop zur Unternehmensführung werden die Frauen fachlich darin geschult was es für den Aufbau ihres eigenen Unternehmens braucht.

Zusätzlich werden die Frauen nach Absolvierung der Kurse darin unterstützt, ein eigenes Geschäftsmodell zu entwickeln. Dieses stellen sie vor einem Expert*innengremium vor. Durch die Expert*innen erhalten sie anschließend weiterführende Beratung und Vermittlung zu staatlichen Kreditprogrammen in Mexiko. Außerdem übernimmt INSADE zum Teil die Vermarktung der Produkte über die Online Plattform Hecho en Libertad. Durch dieses Programm werden Frauen zur unternehmerischen Selbstständigkeit befähigt und können sich damit nach ihrem Gefängnisaufenthalt eine konstante Einnahmequelle aufbauen.

Die Frauen stellen eigene Kosmetika her.
© INSADE

Zukunftsperspektiven durch selbstständiges Unternehmer*innentum

Insgesamt 300 Frauen sollen während der dreijährigen Laufzeit des Projektes von dem von INSADE entwickelten Programm profitieren und ihre soziale, berufliche und unternehmerische Ausbildung abschließen. Jede Gruppe zeichnet Erfahrungsberichte auf, um ihre durchlaufene Entwicklung und die positiven Auswirkungen des Projektes auf ihr Leben festzuhalten. So kann auch die nächste Generation von ihren wertvollen Erfahrungen profitiert. Hunderte Frauen erhalten damit die Chance, ihre Zukunft selbstständig und in Freiheit zu gestalten, ohne aus wirtschaftlicher Not erneut straffällig zu werden.

Der Lemonaid & ChariTea e.V. unterstützt das Projekt finanziell bei den Kosten für die Workshops und den dafür anfallenden Materialkosten, sowie bei der Wirkungsmessung und den Kosten für die Vermarktung der Produkte.

INSADE trägt zur unternehmerischen Selbstständigkeit von Frauen auf Bewährung bei und gibt ihnen die Chance auf soziale und wirtschaftliche Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Durch das Schaffen von Synergien stößt INSADE außerdem einen Prozess der Umwandlung patriarchaler Strukturen an. INSADE setzt sich außerdem für einen gendergerechten Schwerpunkt in staatlichen Reintegrationsprogrammen ein.