Julian hat 11 Monate Freiwilligendienst in Paraguay geleistet. Seine Arbeitsstelle war der vom Lemonaid&ChariTea e.V. unterstützte Kinderhort der Fundación Vida Plena in Asunción. Seine Erfahrungen teilt er nun mit uns. Ein Bericht über Lebensumstände, Engagement und gelebtes Miteinander in Paraguay.
“Im Alltag fiel mir auf, dass sich die Menschen häufiger und intensiver begrüßen und verabschieden als in Deutschland. In den ersten Monaten begleitete ich meinen Gastvater und meine Gastbrüder einmal in der Woche zum Fussball spielen. Jedes Mal wurden wir ausnahmslos von allen Mitspielern per Handschlag und mit einer kurzen Frage nach dem Befinden begrüßt und später erneut händeschüttelnd verabschiedet. Selbst kleine Kinder ließen dieses Ritual nie aus.
Auch an meinem Arbeitsplatz im Kinderhort wurde ich täglich von jedem Kind begrüßt. Die Jungen grüßen mit einem Handschlag und die Mädchen geben ein Küsschen auf jede Wange. So herzlich wurde ich in Deutschland nur selten begrüßt. Selbst entfernten Bekannten und Anwohnern desselben Viertels wird bereits von Weitem gewunken. Es ist dabei üblich kurz ein paar Worte zu wechseln. Sogar der Busfahrer wird nach seinem Befinden gefragt. Auf die Frage, wie es einem geht, antwortet jeder überzeugt und fröhlich: „ Gut“. Diese Antwort empfand ich nicht als Floskel, sondern als Ausdruck einer positiven Sichtweise auf das Leben, die für Paraguayer typisch ist. Ich genoss diese Einstellung.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Kultur ist das Nationalgetränk, der Tereré (eine Art kalter Mate-Tee), der gemeinsam getrunken wird. Dabei steht nicht das Konsumieren des Getränks im Vordergrund sondern das damit verbundene Ritual: Man wird zum Trinken eingeladen, kommt als Gruppe zusammen und alle benutzen denselben Becher. Eine Person bietet den Tereré an und füllt den Becher immer wieder auf. Reihum wird getrunken. Dabei unterhält man sich und es wird gescherzt. Im Laufe des Jahres machten mir diese und weitere Verhaltensweisen deutlich, wie viel stärker in Paraguay das Interesse am Mitmenschen und am gemeinsamen Miteinander gelebt und gezeigt wird.
Meine Einsatzstelle war der Kinderhort der „Fundación Vida Plena“, der in einer ehemaligen Bananenlagerhalle auf dem Lebensmittelgroßmarkt „Mercado de Abasto“ untergebracht ist. Er wird durch deutsche Spendengelder finanziert. Kinder und Jugendliche aller Altersklassen aus der Gegend besuchen vor- und nachmittags den Hort. Insgesamt sind über hundert Kinder eingeschrieben, von denen allerdings nur etwa die Hälfte täglich erscheint. Viele von ihnen kommen aus armen Verhältnissen und sind seelisch stark belastet. Dazu kommt das Umfeld des Lebensmittelgroßmarktes: Neben den faszinierenden, sichtbaren Seiten des hektischen Treibens gibt es einen weitgehend unsichtbaren Teil. Dieser umfasst Prostitution, Drogenhandel, Schmuggel und auch Kinderarbeit. Einige Kinder, die den Hort besuchen, arbeiten regelmäßig auf dem Markt. Sie erhalten von den Erziehern Hilfe bei den Schularbeiten und liebevolle Zuwendung. Gemeinsam wird gespielt, getanzt, gesungen und gekocht.
Während meines elfmonatigen Dienstes im Projekt übernahm ich verschiedene Arbeiten: Morgens bereitete ich mit einem Erzieher oder einer Erzieherin für alle Kinder und Jugendlichen frischgepressten Saft zu. Später betreute ich die Kinder und unterstützte sie bei ihren Hausaufgaben. Danach spielten wir gemeinsam drinnen und draußen und am Ende gaben wir jedem Kind einen kleinen Snack mit auf den Heimweg. Dieser Ablauf wiederholte sich am Nachmittag mit einer anderen Gruppe. Alle paar Monate half ich außerdem am Wochenende bei der Organisation und Durchführung von gemeinsamen Ausflügen. Außerdem begann ich Englischunterricht zu geben. Ich erarbeitete einen Unterrichtsplan, in den die Vorschläge und Wünsche der Kinder und Jugendlichen einflossen.
In meiner Einsatzstelle wunderte ich mich über viele Geschehnisse, die ertragen wurden, ohne dass man versuchte Einfluss zu nehmen. Wie die Konsequenzen ausfielen, war meist stimmungsabhängig. Auf einem unserer Ausflüge wurde ein vierjähriges Kind angefahren, weil einige Kinder nicht dicht genug am Straßenrand gingen. Zum Glück wurde das Kind nicht ernsthaft verletzt. Der Vorfall wurde nicht im Team diskutiert. Folglich wurden auch keine möglichen Konsequenzen besprochen. Ein anderes Mal besuchten wir ein Freibad. Ein Großteil der Jugendlichen konnte nicht schwimmen. Sie paddelten mit einer Luftmatratze in den Bereich, in dem man nicht mehr stehen konnte. Plötzlich rutschte die Luftmatratze weg und ein Erzieherkollege musste die Jugendlichen retten. Fremd war mir, dass diese Ereignisse, die mich erschütterten, von meinen Kollegen und Kolleginnen wenig beachtet wurden. Vielleicht ist dies ein kulturell bedingter Unterschied, den ich als Deutscher, der schon in der Grundschule schwimmen gelernt hat und früh eingeprägt bekam nur am Straßenrand zu gehen, nur schwer nachvollziehen kann. In Deutschland, einem Land voller Absicherungen, Gesetze und Konsequenzen ist man nicht mehr daran gewöhnt, dass solche für uns selbstverständliche Dinge misslingen können.
Trotzdem: Meine Kollegen waren sehr freundliche und aufgeschlossene Menschen. Mit ihnen konnte ich mich ausgiebig unterhalten und von meinen Erlebnissen erzählen. Sie bestärkten mich, in dem sie mir aufmerksam zuhörten und meine Probleme ernst nahmen. Ihr größtes Geschenk an die Kinder war ihre Zuneigung und Liebe, die sie ihnen offen zeigten. In der Pause spielten sie mit ihnen Fussball oder zwängten sich in das kleine Kinderhäuschen, um an einer „Feier“ mit Sandkuchen teilnehmen zu können. Auf Konferenzen wurde über die Entwicklung der Kinder gesprochen und darüber, was man im Umgang miteinander verbessern könnte. Insgesamt schuf dies eine familiäre Atmosphäre, die ich bisher in einer Einrichtung noch nicht erlebt hatte. Ich habe in meiner Freizeit viel mit Freiwilligen über die Arbeit gesprochen, doch keiner konnte von so angenehmen und guten Bedingungen in seinem Projekt berichten wie ich.
Zurück in Deutschland vermisse ich besonders das Interesse der Paraguayer am Zwischenmenschlichen. Obwohl wir in einem Land mit einen viel höheren Lebensstandard und weniger Armut leben, erscheinen mir die Menschen weniger glücklich. Ich erlebe sie oft als kalt und reserviert. Die Zeit in Paraguay hat mich glücklicher und ruhiger werden lassen. Mich hat beeindruckt, wie viel mehr Spaß viele Paraguayer, trotz des viel geringeren Lebensstandards, haben. Streben nach Erfolg und Geld haben seitdem für mich eine wesentlich geringere Bedeutung bekommen. Auch erscheinen mir meine eigenen Probleme oft wie Kleinigkeiten, im Vergleich zu denen, die ich in Paraguay kennengelernt habe. Das hilft mir, meine eigenen Probleme zu relativieren und weniger schwer zu nehmen. Ich hoffe in meinem Leben eine sinnvolle Aufgabe zu finden, die dazu beitragen kann Leid in der Welt zu verringern. Ich hoffe, dass meine Erfahrungen mit den Menschen in Paraguay mir erleichtern auch in schwierigen Situationen ein positives Lebensgefühl zu bewahren, wie es die Paraguayer so gut können.”